Patrick Süskind: Die Taube

Als Au-Pair-Mädchen habe ich nach meinem Abitur drei Monate in Paris verbracht, in einem Chambre de Bonne. In so einem Zimmer wohnt auch die Hauptfigur dieser Novelle. Vielleicht hat mich das Buch deswegen so angesprochen. Aber man muss nicht in Paris gewesen sein, um von dieser Taube berührt zu sein. Absolute Leseempfehlung!

Meine Assoziationen mit diesem Buch:

FarbeGrau
KlangViele vorbeifahrende Autos und Busse
Eiliges Klackern der Schuhe schnell gehender Menschen
Espressotassen, diehektisch auf Bistrotischen abgestellt werden
TemperaturErst lauwarm, dann eiskalt und gegen Ende kocht es kurz auf
LichtSchattig, fast schon dunkel
EmotionenEinsicht: In der Ruhe liegt die Kraft.

Worum geht’s? Um eine Taube auf dem Flur

Pariser Häuer aus der Jahrhundertwende sind in zwei Welten aufgeteilt. Es gibt die normalen Wohnungen, meist eine bis zwei pro Etage, die durch ein breites, mit Samt ausgelegtes Treppenhaus verbunden sind. In den Küchen dieser Wohnungen ist eine Tür, die zu einer weiteren, schmalen, dunklen Treppe öffnet. Sie führt ins Obergeschoss, in dem sich die Dienstbotenzimmer befinden. Diese sind keine zehn Quadratmeter groß und durch Dachfenster oder -gauben recht spärlich beleuchtet. Ich weiß nicht, wie es dort oben heutzutage aussieht. Aber um die Jahrtausendwende gab es in der Regel nur eine Toilette für den ganzen Gang. Dusche: Fehlanzeige. Genau dort wohnt der Wachmann Jonathan Noel in den Achtziger Jahren.

Der erste Satz des Buchs

„Als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr, die seine Existenz von einem Tag auf den andern aus den Angeln hob, war Jonathan Noel schon über fünfzig Jahre alt, blickte auf eine wohl zwanzigjährige Zeitspanne von vollkommener Ereignislosigkeit zurück und hätte niemals mehr damit gerechnet, dass ihm überhaupt noch irgend etwas anderes Wesentliches würde widerfahren können als dereinst der Tod.“

Süskind, Patrick: Die Taube (1987), S. 1

Das Zimmer ist sein ganzer Stolz, sein Zuhause, sein Luxus. So ist es in der Novelle beschrieben. Wer schon einmal in so einem Zimmer war, weiß, dass es nur kläglich sein kann. Aber er scheint zufrieden mit seiner Wohnung, seinem Job, seinem Leben. Bis eines Morgens eine Taube vor seiner Zimmertür sitzt und ihn ansieht, als er gerade aufs Etagenklo will.

Mehr ist es tatsächlich nicht, was passiert. Die Taube sitzt einfach nur da. Doch für den Wachmann kippt die Welt aus den Fugen. Nichts läuft mehr. Er ist sogar kurz davor, sich umzubringen.

Warum, erfährt man (zum Glück) nicht wirklich. Man kann nur deuten, dass Jonathan Noel Angst vor dem Tier zu haben scheint. Vielleicht ist es auch der ungewohnte Sozialkontakt, der den Einsiedler durcheinanderbringt. Ein bisschen ist es auch eine Hygiene-Zwangsstörung, die ihn schaudern lässt – die Federn und der Kot der Taube im Gang stören ihn ungemein. Aber vor allem blockiert ihn das, was er sich ausmalt, was hypothetisch alles passieren könnte.

Banale Dinge sind es, die sich am „Tag der Taube“ ereignen. Eine Hose geht kaputt, ein Auto wird zu spät durchs Tor gelassen. Doch für den Pariser Wachmann ist der Tag eine Horrorgeschichte. Das ist toll, toll, toll zu lesen. Genial geschrieben!

Der letzte Satz des Buchs

„Kein Federchen, kein Fläumchen mehr, das auf den roten Kacheln zitterte.“

Süskind, Patrick: Die Taube (1987), S. 97

Dieses Buch ist was für dich, wenn du:

  • zu Hypochondrismus neigst. Das Buch zieht dich auf den Boden der Tatsachen zurück.
  • erfahren willst, was allein Angst mit einem Menschen machen kann.
  • gerne daran erinnert wirst, zu entspannen und das Leben nicht so ernst zu nehmen.

Ich habe folgendes Buch gelesen:
Süskind, Patrick: Die Taube. Erschienen im Diogenes Verlag AG, Zürich, 1987.

Herkunft:
Aus dem sozialen Buchladen von Frankenfair in Fürth. Sehr empfehlenswertes Geschäft!

Bild: (c) Susanne – aufgenommen in Valparaíso, Chile, 2012

Susanne

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