2015 war das Jahr von Angela Merkels „Wir schaffen das“, das Jahr, in dem knapp 900.000 Schutzsuchende beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge registriert wurden. Und es war das Jahr, in dem Jenny Erpenbeck „Gehen, ging, gegangen“ veröffentlicht hat, ein großartiges Buch über Geflüchtete. Dieses Buch sollte – trotz mancher Längen – jeder lesen.
Worum geht’s? Um geflüchtete junge Männer und ihre Perspektiven
Oder besser Nicht-Perspektiven. Erpenbeck erzählt von jungen Geflüchteten, die in Berlin gestrandet sind. Der Roman ist aus der Sicht Richards geschrieben, der kürzlich emeritiert und seit einem Jahr Witwer ist. Sein Lebensstandard ist gut, er war Uni-Professor. Er besitzt ein Haus am See in einem Berliner Vorort. Er hat Freunde, aber auch viel Zeit.
Durch die Abendnachrichten wird er auf eine Gruppe von Geflüchteten aufmerksam, die auf dem Berliner Alexanderplatz kampieren und in Hungerstreik getreten sind. Interessehalber fährt er hin und sieht sich das Camp an. Und taucht wieder und wieder dort auf. Irgendwann kommt er mit manchen ins Gespräch. Als die jungen Männer in eine Sammelunterkunft in Berlin verlegt werden, schaut Richard weiter bei ihnen vorbei.
Langeweile oder Sensationslust?
Die Autorin lässt offen, was es ist, das Richard immer wieder dort hinzieht. Ist es Langeweile, ist es Solidarität, Mitleid oder Sensationslust? Anfangs ist sein Vorwand, für ein Forschungsprojekt Interviews mit den Männern führen zu wollen. Dem Leser ist aber schnell klar, dass Richard das nur vor sich selbst so bezeichnen, weil es etwas ist, das er aus seinem Berufsleben kennt. Dann beginnt er die jungen Männer in Deutsch zu unterrichten, lädt Einzelne zu sich nach Hause ein, beschäftigt sie mit Gartenarbeit oder gibt Klavierunterricht. Langsam werden sie seine Freunde. Von manchen seiner alten Freunde muss er sich deswegen sogar trennen.
Appell ohne Zeigefinger
Was für eine wunderbare Idee, den Roman aus dem Blickwinkel dieses emeritierten Professors zu verfassen. Was für eine schlaue Herangehensweise an dieses – seien wir ehrlich – ausgelutschte Thema! Das Buch geht ans Herz, ohne aufdringlich zu sein. Es ruft zur Solidarität auf, ohne einen einzigen Appell an den Leser zu richten. Es erklärt, in welcher harten Situation viele Geflüchtete sich befinden, ohne den Zeigefinger zu erheben. Ich habe vieles über die Flüchtlingsfrage gelernt.
Der Roman hat meines Erachtens auch Schwächen. Richard war Professor für Altphilologie. Um das Neue einzuordnen, zieht er Parallelen zu Geschehnissen aus der ihm bekannten „alten“ Literatur. Diese Passagen lasen sich für mich trocken und ich habe sie immer öfter übersprungen. Hätte ich nicht gebraucht. Aber trotz dessen: absolute Leseempfehlung.
Dieses Buch ist was für dich, wenn du:
- Argumente brauchst, falls mal jemand gegen Geflüchtete stänkert.
- nah dran bist zu denken, Geflüchtete sollten nicht aus dem Mittelmeer gerettet werden.
- dich in die ausweglose Situation von Flüchtlingen nicht mehr hineinversetzen kannst, weil so viel darüber berichtet wurde. Nach dem Roman kannst du es wieder.
Ich habe folgendes Buch gelesen:
Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen. Erschienen beim Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München, 2015.
Herkunft:
Danke fürs Leihen, Sophie!
Bild: (c) Susanne – aufgenommen in Siena, Italien, 2019